Bedingungsloses Grundeinkommen und Arbeitsplatzgarantie garantieren soziale Teilhabe
Die Debatte um Grundeinkommen und Arbeitsplatzgarantie ist turbulent. Die vorliegende Buchreihe, insbesondere der vorgestellte Band 2, stellt grundsätzliche Fragen nach dem Menschenbild in der Grundeinkommensdebatte, sowie nach dem Verhältnis von (Erwerbs)Arbeit und Grundeinkommen.
Arbeitsmarktinitiativen wie die Arbeitsplatzgarantie in Gramatneusiedl/Marienthal und das Grundeinkommensprojekt Sinnvoll Tätig Sein in Heidenreichstein experimentieren mit neuen Wegen zur sozialen Teilhabe.
Am 21.2.2024 stellten sich in der Buchhandlung FAKTory (ehem. ÖGB-Buchhandlung) die Sozial- und Arbeitswissenschafter Nikolaus Dimmel von der Uni Salzburg und Jörg Flecker von der Uni Wien, gemeinsam mit dem Grundeinkommensexperten und ehem. Betriebsseelsorger Karl A. Immervoll der Diskussion. Die Politikwissenschafterin Margit Appel, selbst Autorin zahlreicher Grundeinkommenspublikationen, moderierte die Buchpräsentation, sowie die Anfragen aus dem Publikum zu beiden Modellprojekten.
Die zwei Praxismodelle:
Marienthal.reversed – Eine Untersuchung zum Übergang aus der Langzeitarbeitslosigkeit
Marienthal.reversed begleitet die vom AMS Niederösterreich initiierte, weltweit erste Umsetzung einer Arbeitsplatzgarantie, das „Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal (MAGMA)“ für langzeitbeschäftigungslose Menschen in Gramatneusiedl mit einer dreijährigen Längsschnittstudie im mixed-methods Design. Mit umgekehrtem Forschungsinteresse steht die Begleitforschung ganz im Zeichen der sozialwissenschaftlichen Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel. Sie untersucht den Übergang aus der Langzeitarbeitslosigkeit in eine geförderte Beschäftigung und die Wirkungen einer Beschäftigungsgarantie für Langzeitbeschäftigungslose. Alle Teilnehmer:innen des Projekts werden über den gesamten Zeitraum des Projektes MAGMA regelmäßig quantitativ und qualitativ zu ihren Erfahrungen und subjektiven Wahrnehmungen befragt. Ziel ist es, die Maßnahme über das mixed-methods Design zu evaluieren und dabei erkenntnisreiche Einblicke in die Wahrnehmung der Maßnahme, des Überganges aus der Langzeitarbeitslosigkeit und die soziale Teilhabe der Betroffenen, sowie die Veränderungen in deren Lebensrealitäten zu gewinnen.
Wie erleben die Befragten den Übergang aus der Langzeitarbeitslosigkeit, wie ging es ihnen in der Zeit der Arbeitslosigkeit und wie stellt sich die Teilnahme am Projekt MAGMA aus ihrer Sicht dar?
Wie verändert sich die Lebenszufriedenheit und Selbstwirksamkeit, die Gesundheitssituation und das Gesundheitsverhalten, die finanzielle Situation und die Alltagsgestaltung der Betroffenen durch eine Beschäftigungsgarantie?
Verändern sich ihre sozialen Beziehungen durch das Projekt, erfahren die Teilnehmenden Anerkennung und Wertschätzung, soziale Inklusion oder Exklusion?
Diesen Fragen widmet sich das Projektteam in der als Lehrforschungsprojekt konzipierten Begleitstudie gemeinsam mit Studierenden im Master Soziologie.
Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Begleitung durch Jörg Flecker und sein Team:
Sinnvolle Arbeit und gestiegene gesellschaftliche Anerkennung
Das auf 3 ½ Jahre angelegte Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie (MAGMA) war ein Angebot für alle Menschen in der Gemeinde Marienthal, auch für jene, die nicht beim ams als arbeitslos gemeldet waren. Die begleitende sozialarbeiterische Betreuung unterstützte auch bei existenziellen Fragen, wie Wohnen, Finanzprobleme, Gesundheit.
Mehrfachbefragungen während der Projektdauer ergaben bei der überwiegenden Zahl der Beteiligten eine Verbesserung der finanziellen Situation und eine Stabilisierung der Lebensführung.
So haben für viele Existenzsorgen, wie Überschuldung und Wohnraum abgenommen. Die Fähigkeit, Probleme selbst zu lösen, hat zugenommen ebenso wurde eine gestiegene Wertschätzung durch andere Menschen in der Gemeinde und am Arbeitsplatz als besonders bedeutsam für den Selbstwert angegeben. Ein armutsfestes Einkommen konnte garantiert werden, wenngleich auf niedrigem
Niveau. Abgewickelt wurde das Projekt über arbeit plus und es war aufgrund der Geldquellen ein sozialpolitisches Projekt und nicht ein arbeitsmarktpolitisches, wiewohl es zum Ziel hatte, Menschen auch Zugänge in den ersten Arbeitsmarkt zu eröffnen, was für etwa 30% der Beteiligten gelang.
Zur Studie:
(PDF) "Marienthal.reversed": Wie wirkt eine Arbeitsplatzgarantie für langzeitarbeitslose Menschen im österreichischen Kontext? (researchgate.net)
November 2023
Bedingungsloses Grundeinkommen: Sinnvoll tätig sein
Je schneller die soziale Polarisierung von Vermögen, Erwerbsarbeits- und Einkommenschancen voranschreitet, je größer die Zahl der Prekarier:innen, sozial Abgehängten, Langzeitarbeitslosen, als ‚überflüssig‘ Etikettierten wird, desto lauter wird die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen. Die Frage nach dem Menschenbild ist dabei eine grundsätzliche.
Dabei geht es vorrangig darum, anderen zu helfen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
In Heidenreichstein, im nordöstlichen Waldviertel gibt es wenig Arbeit, denn zahlreiche Textilbetriebe von einst haben zugesperrt. Karl A. Immervoll initiierte mit seinem Team der Betriebsseelsorge Oberes Waldviertel das Programm „Sinnvoll tätig sein“. Wer mitmachte, bekam zunächst 6 Monate, in einem Folgeprojekt sogar 18 Monate lang ein „Grundeinkommen“, ohne sich beim ams melden zu müssen. Einzige Bedingung: Die Teilnehmer:innen verpflichteten sich zu wöchentlichen Gruppensitzungen, in denen sie reflektierten, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen.
Von Herzen gerne tätig sein
Immervoll erzählt von Fritz, dem Schriftsteller, der allerdings davon nicht leben kann, also Notstandshilfeempfänger ist, derzeit in Ruhe seine Materialien für eine Lesung in der Stadtbibliothek sichtet; von Andrea, die in einer geschützten Werkstätte hilft, dort Erfahrungen sammeln und lernen will, weil sie die (ehrenamtliche) Pflege einer jungen Frau mit Behinderung übernimmt; von Franz,
dem Fußballfan, der nun freiwillig als Platzwart mithilft, von Martin, von Lisa und anderen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie im Rahmen einer Maßnahme 6 Monate ausprobieren konnten, was ihnen wirklich ein Anliegen ist.
„Von Herzen gerne tätig sein“ war ein Projekt der Betriebsseelsorge Oberes Waldviertel. Die Erfahrungen der Teilnehmer:innen waren durchaus positiv, sie haben ein besseres Lebensgefühl – trotz Arbeitslosigkeit! Aber: 6 Monate sind schnell vorbei!
Einige Zeit später verhandelt Immervoll in der Landesgeschäftsstelle des AMS NÖ. Eine Weiterführung des Projekts, wofür jetzt 18 Monate gewährt werden. Im Endeffekt waren es dann gar mehr als 20 Monate. 44 Frauen und Männer waren in diesem Zeitraum von der Vermittlung ausgenommen. Das heißt: Keine Wege zum AMS, keine Bewerbungen, keine Sorge um den Bezug.
Immervoll und seinem Team war klar, bedingungsloses Grundeinkommen ist das nicht, aber sie dachten pragmatisch: Welche Möglichkeiten gibt es in Österreich überhaupt, wenn nicht durch das AMS?
So begann im April 2017 das Projekt „Sinnvoll Tätig Sein“. Voraussetzung für die Teilnahme war sogenannte Langzeitarbeitslosigkeit und die Absicht, eigene Fähigkeiten zu erkennen, sie weiterzuentwickeln und mit anderen zu teilen. Was verändert sich bei einzelnen Personen und was in einer Kleinstadt wie Heidenreichstein, wenn etwa 1% der Bevölkerung teilnimmt, die bisher weitgehend vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen ist?
Viele konnten mit der vom Team gegebenen Freiheit zunächst nichts anfangen. Fritz, der Schriftsteller, war froh, denn ein Grundeinkommen hat er sich schon immer gewünscht. Für ihn hieß das, keine lästigen Kurse, sondern Konzentration auf seine „Arbeit“. Michaela, eine Alleinerzieherin, hatte nun die Ruhe, sich um ihre Kinder und den schwerkranken Nachbarn zu kümmern. Bertl, der lange in einem Burnout war, sah die einmalige Gelegenheit, sich eine Motorradwerkstätte aufzubauen. Irene fragte mehrmals, wer ihr denn jetzt eine Arbeit anschaffen wird.
Es dauerte mehrere Monate bis klar war: Da will niemand etwas von mir. Keiner sagt mir, das ist gut oder schlecht, es wird nichts Bestimmtes erwartet. Ich bin auf mich selbst gestellt. Was ich tue oder nicht tue, mache ich um meiner selbst willen. Aber ich teile und tausche mich mit anderen aus.
Wundersame Dinge geschahen. Die Masken konnten fallen, Verletzlichkeit trat zu Tage und durfte sein, denn andere waren es auch. Diese Offenheit machte mit einem Mal Neues möglich. Da wurde Hilfe angeboten und in Anspruch genommen, wurden Freundschaften geschlossen, Interessensgruppen gebildet, Neue Arbeit entwickelt. Vor allem wurde auf die Situation geschaut, auf Interessen, auf die Arbeit, die ohnehin im Ablauf eines Tages geleistet wird, wie zum Beispiel Betreuungsarbeit; auf gesundheitliche Beeinträchtigungen, die bei einigen ganz schwerwiegend waren. Und es durfte auch sein, dass jemand einfach Zeit brauchte.
Das Team nahm Druck, gab Wertschätzung und Anerkennung und setzte Akzente, ohne dabei aufdringlich oder konsequent zu sein: Turnen für die Wirbelsäule, Erste-Hilfe-Kurs, Vortrag einer Psychologin, Gespräch mit der Schuldenberatung, Information über gewerbliche Tätigkeiten, industriegeschichtlicher Rundgang durch die Stadt, Kultur, Blick auf die eigene Biografie. Wer dabei sein wollte hatte Gelegenheit, die Weiterführung lag an der einzelnen Person. Hilfestellung konnte jederzeit erbeten werden.
Was bleibt?
Wir alle haben uns verändert, haben (Vor-)Urteile abgebaut und viel dazugelernt. Die Achtung und der Respekt vor jeder einzelnen Person ist gewachsen. Wir versuchen nicht zu bewerten.
Niemand liegt in der „sozialen Hängematte“. Manchmal fragen wir uns, wer sind die Leistungsträger:innen in unserer Gesellschaft?
Neben der Gestaltung eines öffentlichen Platzes – der zuvor als Schandfleck bezeichnet werden konnte – gibt es Engagement bei gemeinnützigen Einrichtungen und Vereinen.
Ausbildungen wurden begonnen.
Neue Kontakte und Teilhabe am Leben der Gemeinde sind entstanden. Nun trifft man in der Stadt Leute, die man kennt.
Mehr als 25% fanden Arbeit oder schufen sich selbst einen Arbeitsplatz. Das passierte meist dadurch, dass durch die Teilnahme am Projekt neue Informationen und Beziehungen gewonnen werden konnten.
Eine Gruppe von Teilnehmer:innen setzt ihre Tätigkeit in politischem Sinn fort, sie wollen Lobby für Benachteiligte in der Gesellschaft sein.
Alle legen ein vermehrtes Augenmerk auf ihre Gesundheit. Für manche ist es schon zu spät, sie sind zumeist durch die frühere Arbeit geschädigt. Aber es ist niemals zu spät für Linderung.
Als Mitarbeiter:innen der Betriebsseelsorge haben wir viel Zeit investiert. Geld bekamen wir dafür nicht. Förderungen wurden seitens Bund, Land und Gemeinde stets abgelehnt. Unterstützung gab es für eine zusätzliche Begleitperson das AMS, der Arbeitslosenfonds der Diözese St. Pölten und eine Stiftung, von privater Seite waren eine Grundfinanzierung für eine wissenschaftliche Begleitung erfolgreich. Aber es hat sich ausgezahlt! Wir möchten die Erfahrungen nicht missen. Und unser verlässlichster Partner, das AMS, wartet auf die Erkenntnisse, die in dieser Buchreihe nachzulesen sind:
EXKURS:
REALLABOR KÄRNTEN
Nikolaus Dimmel analysiert die gegenwärtige Arbeitssituation, wie sie von vielen Menschen empfunden wird, als so temporeich und überfordernd, dass viele nicht mehr mitkönnen. Trotz dieser Erkenntnis geht es bei Arbeitsmarktmaßnahmen vorrangig darum Menschen job-ready zu machen, statt Arbeitsplätze um die Menschen und ihre Fähigkeiten „herum zu bauen“.
Nikolaus Dimmel ist in Kärnten in das Reallabor „Lohn statt Taschengeld“ involviert, das ein 2 Säulen-Modell mit inklusiven Arbeitsplätzen erprobt.
Ausgangssituation:
Menschen mit Behinderung sind in Werkstätten zwar produktiv wertschöpfend tätig, dennoch nicht sozialversichert und ausreichend entlohnt, um ein abgesichertes Leben mit Pensionsanspruch führen zu können. Dieses Pilotprojekt für Menschen mit Behinderung macht erstmals Inklusion am ersten Arbeitsmarkt zur Realität. Die Erkenntnisse aus dem Reallabor Kärnten, dienen in der Folge dem Bund als Grundlage für eine österreichweite Umsetzung.
Aus der gemeinsamen Weiterarbeit nach dem Symposion entstand auch das REALLABOR WALDVIERTEL
Es gibt Menschen, die machen sich Gedanken über „Gute Arbeit für alle“. Sie denken über soziale Absicherung und gerechte Löhne nach, über Beschäftigung von Menschen mit Behinderung und mehr.
Und dann sind da Leute, die meinen, dass das gar nicht geht. „Das können wir uns nicht leisten, dafür fehlt das Geld und überhaupt … Außerdem geht das vom Gesetz her gar nicht.“
Was bitte ist ein Reallabor?
https://www.kaboe.at/reallabor
Weiterführende Hinweise:
Zur Studie Marienthal.reversed:
(PDF) "Marienthal.reversed": Wie wirkt eine Arbeitsplatzgarantie für langzeitarbeitslose Menschen
im österreichischen Kontext? (researchgate.net) , November 2023
Bedingungsloses Grundeinkommen in der Debatte.
Herausgegeben von Nikolaus Dimmel und Karl A. Immervoll. Edition promente Band 1 und Band 2:
https://editionpromente.jimdo.com/lieferbare-titel/sozialpolitik/
Artikel zum Projekt Sinnvoll tätig sein:
https://blog.ksoe.at/es-ist-zeit-sinnvoll-taetig-sein-ein-grundeinkommensprojekt/
Das Buch „Bedingungsloses Grundeinkommen in der Debatte: Von Heidenreichstein nach Marienthal. Arbeit – Sinn – soziale Sicherung“, Pro MenteVerlag 2023, ist die Dokumentation des Symposions „Wege zur sozialen Teilhabe. Erfahrungen von Jobgarantie bis Grundeinkommen", vom 23.6.2022 in der AK St. Pölten mit über 100 Teilnehmer:innen aus AK, ÖGB, Sozialinitiativen, Grundeinkommensaktivist:innen, Betriebsseelsorge und KAB.
Die Beteiligten:
Nikolaus Dimmel und Karl A. Immervoll beschäftigen sich seit Jahren mit Fragen von Grundeinkommen und Grundsicherung. N. Dimmel aus Sicht von Wissenschaft und Sozialpolitik, K. Immervoll im Rahmen der Praxis konkreter Begleitung von Personen als Betriebsseelsorger. Jörg Flecker untersuchte die Frage nach der Wirkung einer Arbeitsplatzgarantie für langzeitarbeitslose
Menschen im österreichischen Kontext.
Die Moderatorin Margit Appel ist gemeinsam mit Barbara Prainsack Herausgeberin des Buches Arbeit-Care-Grundeinkommen. (Mandelbaum 2024)
Die Buchpräsentation war eine Kooperationsveranstaltung von KABÖ und FAKTory.
Bericht: Gabriele Kienesberger, KABÖ
https://www.kaboe.at